Samer Tannous (49) war Hochschuldozent in Damaskus, bevor er 2015 mit seiner Familie nach Rotenburg an der Wümme geflüchtet ist. Mittlerweile arbeitet er als Französischlehrer und schreibt in seiner SPIEGEL-Kolumne "Kommt ein Syrer nach Rotenburg" sehr lesenswert darüber, was Deutsche und Syrer eint oder unterscheidet. Auf dem Hurricane hat Samer unter anderem gelernt, was ein Moshpit ist, und warum man hungrig nach Musik sein kann. Über seine Erfahrung in Scheeßel, unterschiedliche Musikkulturen und warum wir Deutschen es immer wieder schaffen, ihn zu überraschen, spricht er mit uns im Interview.

Samer, mal ganz ehrlich: Hat es dich überrascht, die sonst eher förmlichen Deutschen auf dem Hurricane auf einmal so ausgelassen feiern zu sehen?

Ja, definitiv. Die erste Überraschung kam eigentlich schon im Zug, als ich die ersten Gäste gesehen habe: Scharen von jungen Leuten in schrägen Outfits, mit Rucksäcken und Bollerwägen, mit Zelten und Bierdosen. Einige hatten ihre Gummistiefel um den Hals gebunden, andere trugen Wasserkanister an ihrem Gürtel. Ich habe mir gesagt, was soll diese Verrücktheit? Ich habe ja viel über das Hurricane gehört, aber hätte nicht gedacht, dass die Leute mit so viel Gepäck im Zug anreisen. Die sahen für mich aus wie Nomaden! (lacht) Aber auch dass sie drei Tage direkt auf dem Festivalgelände wohnen und dort feiern, war neu für mich.

Getroffen haben wir uns in den Räumen der klar Werbeagentur in Scheeßel, bei denen wir schon mit unserem Pop-Up-Store zu Gast sein durften.

Wie war denn dein Tag auf dem Hurricane?

Der war sehr schön! Ich habe davor ein paar Videos angeguckt und gelernt, dass es bei euch öfter mal regnet. Aber dieses Jahr war total sonnig und warm, mein erster Eindruck war für mich, dass ich am Strand bin! Die Stimmung war auch besonders. Ich hatte das Gefühl, dass die Leute regelrecht hungrig sind, Musik zu hören. Wenn ein Konzert auf der einen Bühne zuende war, gingen alle zusammen zur nächsten Bühne, um ein anderes Konzert zu hören. Unglaublich, ich war total beeindruckt!

Für dich war es die erste Live-Erfahrung mit Rockmusik, oder?

Das stimmt. In der arabischen Welt hören wir Rockmusik nicht wirklich. Wir kennen europäische oder amerikanische Musik zwar, aber Rockmusik wird in der arabischen Welt oft ein bisschen mit Gewalt in Verbindung gebracht. Sie klingt einfach sehr hart für uns. Für mich war das Hurricane also die erste Erfahrung damit. Anfangs habe ich mir Sorgen gemacht, aber nach und nach hat es mir immer besser gefallen! Sehr gute Sängerinnen und Sänger, eine tolle Stimmung und das Publikum, das die Musik und die Gefühle wirklich lebt - das war sehr schön.

Also hast du nicht nur dein Bild der Deutschen, sondern auch das der Rockmusik geändert?

Richtig. Es gibt große Unterschiede, wenn man Rockmusik nur aus dem Fernsehen kennt oder sie wirklich live erlebt. Alle Leute dort waren total nett, es gab keinerlei Probleme, was mich sehr überrascht hat. In der arabischen Welt haben wir Vorurteile, beispielsweise dass Alkoholkomsum oft zu Problemen führt. Beim Hurricane habe ich dann eine Freundin getroffen, die Polizistin ist. Sie hat gesagt, dass es so gut wie keine Probleme gab und das Festival wieder total friedlich ist.

Ich selbst komme ja aus einem kleinen aber touristisch geprägten Dorf, dort gibt es auch fast jeden Abend Livemusik. Aber das ist nicht vergleichbar: Die Musiker spielen im Restaurant, und das Publikum sitzt an Tischen, um zu essen und zu trinken. Beim Hurricane war die Stimmung viel gelöster, und trotz des vielen Biers gab es keine Probleme.

Obwohl das Treiben vor der Bühne inklusive Moshpit für Außenstehende ziemlich aggresiv wirken muss, oder?

(lacht) Ja, genau! Ich hatte erst Angst - was machen die denn da? Aber alle Leute wollten einfach nur feiern. Das finde ich sehr schön.

Erzähl doch mal ein bisschen was über syrische Musik! Was läuft dort im Radio, was hört man denn so im Restaurant?

Gern. Also wir hören so gut wie immer arabische Musik, zum Beispiel Popmusik, da gibt es viele Sängerinnen und Sänger, die sehr bekannt sind. Wenn sie ein Konzert geben oder auf einem Festival spielen, füllen sie bei uns Stadien mit 20.000 oder 50.000 Personen, oft spielen sie aber in Restaurants oder Hotels. Übrigens habe ich auch hier schon Konzerte mit arabischen Künstlern besucht, leider kommen sie oft aber nur nach Berlin oder Köln. Letztes Jahr bin ich also nach Köln gefahren, um meinen Lieblingssänger Georges Wassouf zu sehen.

Kannst du mir den Namen aufschreiben? Dann können unsere Leser ein bisschen Musik hören, während sie dein Interview lesen!

Gerne! Es gibt noch viele andere tolle Musiker, zum Beispiel Nassif Zeytoun, der eine Talentshow gewonnen und nun großen Erfolg hat. Wenn ihr euch Konzerte von beiden anschaut, werdet ihr sicher überrascht sein, wie viele Leute kommen und wie gut und ausgelassen die Stimmung ist. Ich hoffe, dass zukünftig noch mehr syrische und arabische Künstler nach Deutschland kommen. Beim Hurricane habe ich nicht viele Araber gesehen, für uns klingt Rockmusik halt ziemlich fremd.

Gut, dass du das ansprichst. Denn für uns klingt arabische Musik auch oft ziemlich fremd, weil das Tonsystem anders ist. Eure Tonleitern haben ja nicht nur Ganz- und Halb-, sondern auch Vierteltöne, da müssen sich unsere Ohren erst dran gewöhnen.

Stimmt, aber dann wird es eure Ohren freuen, dass Nassif Zeytoun ziemlich europäische Musik macht (lacht). Man kann richtig gut dazu tanzen!

Wir haben viele verschiedene Stile. Fairuz zum Beispiel ist eine klassische Sängerin und echte Ikone. Alle Araber hören sie. Sie ist schon Mitte 80 und kommt aus dem Libanon. Sie verarbeitet auch westliche Einflüsse, beispielsweise Mozart. Ich finde, alle sollten Fairuz hören! (lacht) Ihre Texte sind auch sehr schön.

Ich finde es schade, dass es hier in Deutschland nicht mehr Orte gibt, an denen man Musik hören und gleichzeitig essen und tanzen kann. Konzerte sind viel häufiger. Naja, und rauchen kann man hier in Restaurants auch nur auf der Straße! Das ist der große Unterschied! (lacht) Obwohl ich kein Raucher bin und es mich am Tisch stört, rauche ich manchmal gerne ein Zigarette, wenn ich auf einer Party bin, wo es Essen, Trinken und gute Musik gibt. Sozusagen habe ich in dieser Stimmung einen Punkt erreicht, den wir auf arabisch „ Saltaneh “ nennen. Und von diesem Verb "Saltana",  das die deutsche Sprache nicht kennt und die Stimmung bezeichnet, wenn uns Musik entzückt, erhielt der Sänger Georges Wassouf seinen Spitznamen: der Sultan der genieβbaren Musik. Wenn alle seine Zuhörer also von der Musik entzückt sind, fängt er langsam an, ein "Mawwal" zu singen, eine Art arabisches Gedicht, das typisch für arabische Musik ist. Die Leser können in Wassoufs Video hören, was ich meine.

Was du beschreibst, kenne ich eher von Hochzeiten: Da wird oft gleichzeitig gegessen, getanzt und Livemusik gehört.

Aber sag mal, ich habe sehr viel Respekt davor, wie schnell du Deutsch auf so hohem Niveau gelernt hast. Wie hast du das geschafft?

Beim Deutschlernen haben mir Freunde viel geholfen und hier möchte ich die Gelegenheit nutzen, um meine Dankbarkeit für meinem Freund Elmar Wagener zu äuβern. Naja, ich bin schon drei Jahre in Deutschland. Und wie du hörst, mache ich noch viele Fehler. Als ich nach Deutschland gekommen bin, kannte ich kein einziges Wort. Ich habe alleine Deutsch gelernt, ohne einen Kurs. Jetzt kann ich alles sagen und schreiben, was ich möchte - auch wenn ich für den SPIEGEL immer Hilfe brauche. Hier möchte ich deshalb auch meinen Freund Gerd Hachmöller, mit dem ich diese Kolumne schreibe, grüβen und ihm danken.

Du arbeitest ja als Französischlehrer, musst also jungen Menschen selbst eine Fremdsprache beibringen - helfen dir deine eigenen Erfahrungen dabei?

Ja, natürlich! Das hilft mir viel. Die Sache ist die: Man muss einfach sprechen, sprechen, sprechen. Viele Schüler haben Angst, Fehler zu machen. Dann sage ich ihnen: Ich bin euer Lehrer, aber gleichzeitig lerne ich gerade Deutsch. Wollt ihr meine Lehrer sein? Also korrigieren sie mich, wenn ich auf Deutsch etwas Falsches sage. Das hilft ihnen, mehr Französisch zu sprechen.

Du schreibst viel über kulturelle Unterschiede zwischen Syrien und Deutschland. Was ist für dich der größte Unterschied, und was ist überraschend ähnlich?

Es gibt sehr viele kulturelle Unterschiede, aber immer wieder fällt mir auf, wie sehr ihr Deutschen Hunde liebt. In der arabischen Welt bleiben Hunde meist draußen und bewachen das Haus. Auch der Umweltschutz ist hier viel wichtiger, das ist gut und dafür habe ich viel Respekt. Naja, und auch in der Beziehung zwischen Mann und Frau gibt es Unterschiede. Auch bei uns sind sie prinzipiell gleichberechtigt, in der syrischen Verfassung steht beispielsweise, dass diese Gleichberechtigung garantiert ist. Aber in der Praxis geht dieses Gleichgewicht immer in Richtung des Mannes. Hier in Deutschland teilen Mann und Frau dagegen alles. Das hat uns zuerst überrascht, aber natürlich finden wir das gut.

Auch die Kommunikation ist so anders, viel direkter. Als dir eben Kaffee angeboten wurde, hast du zum Beispiel "Nein danke" gesagt, weil du eben keinen Kaffee willst. Bei uns wäre das nicht so einfach! Du bist bei mir, du bist mein Gast, es geht einfach nicht, dass du ohne Kaffee wieder gehst. Wir fragen dich so lange, bis du ja sagst (lacht). Übrigens nicht nur bei Kaffee. Zum Beispiel hat mich neulich meine Tante besucht und mir eine Zigarette angeboten. Dabei weiß sie genau, dass ich eigentlich kein Raucher bin.

Wie, und du hast dann aus Höflichkeit einfach eine geraucht?

Ja klar! Einfach weil das ein Teil unserer Kommunikation ist. Um meiner Tante eine Freude zu bereiten, nehme ich die Zigarette. Ein Deutscher würde das wohl niemals machen! (lacht)

Niemals! Schon gar nicht in der eigenen Wohnung!

Nein ist nein, und ja ist ja. Daran musste ich mich erst mal gewöhnen.

Auch wie frei alle Geschlechter miteinander umgehen, insbesondere auf Musikfestivals, war sicherlich neu, oder?

Ja und nein. In Syrien gibt es verschiedene Regionen und Religionen und verschiede Arten zu leben. In unserer Region zum Beispiel tanzen wir auch miteinander, wenn wir Konzerte besuchen oder Party machen - das ist kein Problem, wie man auch in den Videos sehen kann. Aber unsere Gesellschaft bleibt an Ende eine orientalische Gesellschaft, die sehr viel konservativer als die europäische ist. Wir haben immer Grenzen und rote Linien, die man nicht überschreiten darf und respektieren muss. Hier hat die Gesellschaft starke Augen, und man muss sich an Prinzipien halten. Aber mit der Freiheit umzugehen bleibt am Ende eine persönliche Frage. In Deutschland ist die Freiheit aber sehr groβ.  In der arabischen Welt achten wir mehr auf das, was die Gesellschaft denkt und sagt. Was denken die Leute, wenn ich meine Frau oder Freundin auf der Straße küsse? Wir haben Angst vor den Augen der Gesellschaft, in Europa ist das nicht so wichtig. Oder hat sich zumindest so entwickelt.

Wir achten vielleicht auch einfach auf andere Dinge: Hast du den Rasen gemäht, wie ordentlich ist dein Haus und Garten? Festivals sind deswegen wichtige Orte, bei denen wir freier sein können und die Konventionen des Alltags ein Stück weit vergessen. Samer, vielen Dank für das Gespräch, das war sehr interessant! Und natürlich bist du uns auf dem Hurricane immer willkommen.

Das freut mich, sehr gerne. Und wenn du mal wieder arabische Musiktipps brauchst, sag einfach Bescheid!